8. Die Lüge, die uns ständig begleitet¶
Als ich anfing, mit meinen Patienten zu sprechen, fiel mir auf, dass sie alle die eine innere Überzeugung teilten: Ich muss geliebt werden. Offenbar denkt der Mensch, durch ein „geliebt werden“ wird sein Bedürfnis gestillt. Alle Geschichten meiner Patienten drehen sich in irgendeiner Form um die Liebe, immer um den gleichen Gedanken: Ich bin nicht geliebt.
Im Folgenden möchte ich einige Fälle aus der Praxis schildern, welche die Erwartung, geliebt zu werden, veranschaulichen.
Fall 6
Eine junge Patientin konnte seit drei Tagen nicht schlucken und essen. Ich konnte jedoch keine körperlichen Auffälligkeiten feststellen. Die Frau war seit zwei Jahren verheiratet. Ihre große Not war die sparsame Einstellung ihres Ehemannes. Erst wollte er gar keine Hochzeitsreise machen, sie konnte ihn aber gerade noch überreden. Als die junge Frau sich am Abend im Hotel hübsch gemacht hatte und erwartete, dass der Ehemann sie zum Essen einladen würde, sagte er: „Komm, wir gehen in den Supermarkt und kaufen uns etwas zu essen.“ Nicht wirklich romantisch, oder?
Die Frau ist also mit einem geizigen Mann verheiratet, der spart, wo er nur kann. Noch während der Hochzeitsreise unternahm sie einen Selbstmordversuch im Pool des Hotels. Vor dem Besuch bei mir war wieder etwas vorgefallen, was zeigte, dass ihr Mann sich in den letzten zwei Jahren nicht verändert hatte.
Alle Probleme des Menschen kommen daher, dass er denkt, andere lieben ihn nicht. Warum ärgert sich denn eine Mutter, wenn der Sohn das benutzte Geschirr nicht abräumt? Ärgert die Mutter sich, weil sie nicht abwaschen kann? Das macht sie schon viele Jahre. Sie ärgert sich, weil sie unbewusst denkt, der Sohn würde sie nicht lieben und nicht wertschätzen, weil er das Geschirr sonst nicht für sie stehen lassen würde. In fast allen Büchern über Beziehungen steht: „Sie müssen geliebt werden, es ist ein Geben und ein Nehmen.“ Diese Lüge, dass jemand anderes für uns bzw. unsere Bedürfnisse da sein soll, begleitet uns das ganze Leben und macht es uns schwer.
Aus diesem Irrtum entsteht eine weitere Lüge: „Andere dürfen mir nichts Falsches tun.“ Das heißt, andere dürfen mich nicht belügen, betrügen, schlagen, bestehlen usw. Dazu hatte ich einen bemerkenswerten Fall in meiner Praxis.
Fall 7
Eine Patientin war schwer verärgert über ihren Mann, denn sie wusste, dass er eine Affäre hatte. Sie hatte es ihm immer wieder vorgeworfen und er hatte es immer bestritten, bis er eines Tages die Affäre doch zugab und sich trennen wollte. Die Patientin ärgerte sich weniger darüber, dass er eine andere nahm, sondern weil er sie so lange belogen hatte. Ich fragte sie: „Wer sind Sie, dass Ihr Mann Ihnen Ehrlichkeit schuldet?“
Oder allgemein: Wer bin ich, dass mir irgendjemand etwas schuldet? Dürfen mich andere belügen und betrügen? Mich schlagen oder mir etwas stehlen? Nun, sie dürfen es, gleichwohl sie so sicherlich gegen die Gesetze des Staates verstoßen. In dem Moment, in dem ich das Tun des anderen nicht aushalten kann, d. h., wenn ich dem anderen das Recht nehme, zu tun was er will, nehme ich mich selbst gefangen und es geht mir nicht gut.
Mit zwei einfachen Fragen wird deutlich, wie unlogisch die Liebe anderer Menschen bewertet wird. Wenn ich meine Patienten frage: „Kann jemand für Sie denken?“ antworten alle richtigerweise mit „Nein.“
Wenn ich aber die Frage nur ein wenig anders stelle: „Müssen Sie von jemandem geliebt werden?“ antwortet jeder mit „Ja!“. Das ist nicht schlüssig. Wenn ich wirklich von jemand anderem geliebt werden muss, dann muss ein anderer für mich liebevolle Gedanken denken können. Also sind die Antworten meiner Patienten auf die faktisch gleiche Frage gegensätzlich. Die Menschen geben sich oft nicht einmal Rechenschaft darüber, wie widersprüchlich ihre Auffassung über die Gedanken anderer Personen ist.
Warum will jeder Mensch geliebt werden? Und warum ist jeder Mensch davon überzeugt, auch als Erwachsener beeinträchtigt zu sein, wenn seine Mutter ihn als Kind nicht geliebt hat?
Ein Patient, über 40 Jahre alt, wich zurück, als ich ihm in die Ohren schauen wollte. Ich fragte ihn, warum er solche Angst hätte. Der Mann antwortete: „Weil meine Eltern mich nicht geliebt haben!“. Hat man mit 40 tatsächlich deshalb Ängste, weil man von den Eltern nicht geliebt wurde? Wir sehen nicht, dass das, was andere tun oder lassen, für unsere Bedürfnisbefriedigung nicht zählt. Nur das, was wir tun, ist hinsichtlich unserer Bedürfnisse und für unser Leben entscheidend.
Der Gedanke Ich muss geliebt werden, damit meine geistigen Bedürfnisse befriedigt werden ist eine Lüge, ganz einfach, weil es eine Unmöglichkeit ist. Niemand kann für ein anderes Individuum die körperlichen und die geistigen Bedürfnisse stillen. Unser Körper deckt diesen Selbstbetrug durch negative Emotionen und Krankheit auf.
Am Körper können wir am besten sehen, ob ein Gedanke aus der Wahrheit oder der Lüge stammt. Den Körper kann man nicht anlügen, er reagiert zwar mit Toleranzen, aber zur Reaktion an sich gibt es keine Alternative. Unser Körper benötigt u. a. elektrischen Strom, um zu funktionieren. Dieser Strom wird ausgelöst vom Geist des Menschen. Aber der Geist hat auch eigene Bedürfnisse, welche er zunächst stillen muss. Der Geist ist leer in sich selbst, bevor er Informationen aufnimmt. Für die Erfüllung unserer Bedürfnisse sind dabei die drei Fragen zu beantworten: Wer?, Wie? und Woher?
Wer ist zuständig, dass mein Magen gefüllt wird? Nur ich selbst bin zu 100 % verantwortlich, denn niemand anderes kann für mich essen. Essen bedeutet, dem Körper das entsprechende Bedürfnis nach Nahrung mit dem zu erfüllen, was man zuvor aus der Natur genommen hat. Wir essen nach dem Gesetz des Lebens, wir müssen zuerst nehmen, um zu geben.
Gehen wir jetzt auf die geistige Ebene. Wer ist zuständig, dass mein Geist genug Liebe bekommt? Wer ist verantwortlich dafür, dass er „gefüllt“ wird? So wie bei den körperlichen Bedürfnissen bin ich es selbst zu 100 %. Wie muss ich dabei vorgehen? Der Aufbau des Menschen zeigt uns, dass liebevolle Gedanken gegenüber dem Nächsten notwendig sind, damit der körpergerechte Strom erzeugt wird. Diese Information muss aber zuerst aufgenommen werden, um sie weiterzugeben. Im Irrtum seines Geistes sieht der Mensch jedoch nicht, dass es auch im Lieben zwei Aktionen gibt. Er denkt Lieben wäre nur geben. In der Realität wird jedoch klar: Wenn ich meinem Gegenüber keine liebevollen Gedanken geben kann, weil er meinem Bedürfnis nicht entspricht, nehme letztendlich ich von ihm die Information und gebe genau das zurück, was ich aufgenommen habe. Ist mein Gegenüber disharmonisch oder ärgerlich, dann werde ich es auch. Ist mein Gegenüber liebevoll, dann antworte ich meistens auch liebevoll und fühle mich dabei wohl. Denn solange ich liebevolle Gedanken denke, entspricht der dadurch ausgelöste Strom meinen körperlichen Bedürfnissen und wird mir nicht schaden.
Auch für einen Gedanken greift das Prinzip von Nehmen und Geben. Der liebevolle Gedanke ist Geben. Woher kann ich ihn vorher nehmen? Warum kann ich nicht einfach solche Gedanken denken auch über die, die mich nicht lieben? Weil sich der Geist tief und fest in seinem Irrtum befindet, dass sein Bedürfnis nur gestillt wird, wenn der andere ihm etwas gibt. Damit sind wir alle auf die Taten anderer fixiert.
Dabei sind die Worte nicht immer entscheidend. Auch Worte wie ein: „Ich liebe Dich“ können zu Ärger und Stress führen, wenn es jemand sagt, der mich gestern noch geschlagen hat. Wie reagiert und fühlt man sich dann? Es sind doch so schöne Worte gesprochen worden. Wenn die Worte nicht glaubhaft sind, reagiert man mit lieblosen Gedanken. Dadurch entsteht ein Stromimpuls, der eine negative Emotion hervorruft. Dies macht deutlich, dass Gefühle nicht daraus entstehen, was ein anderer tut, sondern allein von der eigenen Reaktion darauf.
Warum nun kann ich auf ein negatives Verhalten des anderen (meistens) nicht positiv reagieren? Warum bin ich nicht in der Lage, sachlich zu bleiben, sondern muss mich aufregen und mich schlecht fühlen? Weil der Irrtum in unserem Herzen uns unbewusst glauben lässt, dass der andere uns etwas schuldet, wenn schon nicht Liebe, dann doch mindestens Freundlichkeit.
Die Idee, geliebt werden zu müssen, ist jedoch nicht funktional, das Gesetz schließt sie aus. Eine mich selbst betreffende Funktion kann nicht außerhalb meiner Person stattfinden. Niemand kann jemandem etwas geben, wenn dieser es nicht aufnimmt. Wir haben alle eine Wirkung auf andere und umgekehrt andere Menschen auf uns. Ob jemand auf die „Ausstrahlung“ des anderen reagiert, liegt jedoch allein an ihm selbst. Egal, was einem angeboten wird – im Guten oder im Schlechten – wenn man es nicht aufnimmt, passiert gar nichts. Nach dem Gesetz von Nehmen und Geben muss ich die Liebe, bevor ich sie weitergeben kann, irgendwoher nehmen. Wenn ich die Person nicht lieben kann, die mich nicht liebt, wird eines klar: Diese Person ist eigentlich diejenige, von der ich Liebe nehme bzw. bekommen möchte. Ich benutze sie also als meine Liebesquelle.
Wenn wir den Aufbau des Menschen verstehen, dann gibt uns das Gesetz einen absoluten und verlässlichen Maßstab hinsichtlich Ursache und Wirkung. Mit dem Grundgesetz aller Funktionen im Universum und mit der Struktur des Menschen lassen sich nahezu alle Dinge im Leben einordnen und erklären, warum sie passieren oder eben nicht. Der Mensch hat den Vorteil, dass er die Fähigkeit der Reflexion besitzt. Das ermöglicht ihm, die Dinge an sich selbst festzustellen und darüber nachzudenken.