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9. Selbsterkenntnis als (schw)erster Schritt zur Wahrheit

Was ist die wichtigste Erkenntnis, die man erlangen sollte? Ist es nicht die Selbsterkenntnis? Ich bin überzeugt, dass die tiefe Unkenntnis über unser Wesen die größte Katastrophe für die Menschheit ist. Wie denke ich? Wie entstehen meine Gefühle und Emotionen? Wieso reagiere ich so? Würden die Menschen sich selbst kennen, könnten sie auch von anderen nicht betrogen werden. Mit Selbsterkenntnis würden wir wissen, wer wir sind, was wir tun und leisten können und was uns unmöglich ist. Aber der Mensch kennt sich leider nicht. Es lehrt uns auch keine Schule oder Universität die Wahrheit über uns selbst.

Als ich anfing, mit Patienten über ihre Lebensgeschichten zu sprechen, fiel mir auf, dass sich die Menschen selbst fehleinschätzten. Anhand ihrer Erzählungen war leicht zu sehen, dass sie ein falsches Bild von sich hatten. Ich musste mich dabei fragen: Sehe ich mich selbst auch dermaßen verkehrt? Wir haben eine große Not damit, dass wir uns selbst nicht kennen. Selbsterkenntnis mag mit Mühe verbunden sein, aber ungeachtet dessen ist es unerlässlich, dass wir die Abläufe in uns selbst verstehen, um Krankheit erklären zu können.

Um zur Selbsterkenntnis zu gelangen, können wir Spiegel benutzen. Für den Körper ist es der Spiegel aus Glas, den wir alle kennen. Reflektiert ein Spiegel die Wirklichkeit? Ein guter Spiegel zeigt ein exaktes Spiegelbild. Was aber ist der Spiegel für den Geist? Wie merke ich, wer ich als Person bin?

Wichtig ist, dass ich mich selbst anhand eines objektiven Maßstabes erkenne. Was steht uns dafür zur Verfügung?

Die Mittel zur Selbsterkenntnis:

A. Der Körper: Wir haben bereits den Aufbau des menschlichen Gehirns und speziell der Hirnrinde betrachtet. Mit Hilfe der Nerven, die auch die kleinsten Teile des gesamten Körpers verbinden, werden alle Körperfunktionen über die Hirnrinde gesteuert. Das ist nur möglich, weil wir einen Geist haben. Geist und Körper agieren zusammen wie ein Spieler und sein Klavier. Durch die Gedanken und Entscheidungen steuert und sendet der Geist elektrische Ströme in den Körper. Da es für ein Organ beim Nehmen keine Wahl gibt, nimmt das Gehirn in seiner Funktion als Kanal diese Ströme auf und reagiert entsprechend, d. h. es gibt den Impuls in den Körper genau dorthin weiter, wie es vom Geist vorgegeben ist.

Die erste körperliche Reaktion erfolgt im Limbischen System. Über Emotionen melden Hormone (Chemie) in einem ersten Kreislauf zurück, ob der Gedanke, der den Stromimpuls hervorgerufen hat, körpergerecht war oder nicht. Emotionen sind immer Folge von Gedanken, also eine Wirkung. Emotionen und Gedanken sind also nicht parallel. So wird ein Angstgedanke unbewusst gedacht und anschließend über Stromimpulse mit nachfolgender Hormonausschüttung als für den Körper belastende Emotion realisiert. Damit ist der Mensch selbst verantwortlich für das, was er als Emotion wahrnimmt. Die Emotionen sind letztlich der Spiegel unseres unbewussten Denkens.

Im Falle der Patientin mit den starken Kopfschmerzen (Fall 5) traten die Emotionen auf, nachdem sie ihre liebevollen Gedanken hinsichtlich ihres Freundes verändert hatte. Der Auslöser war die negative Information über die Untreue ihres Freundes, die nicht dem Bedürfnis ihres Geistes entsprach. Die Frau hat deshalb angefangen, Gedanken der Enttäuschung, der Verletzung und auch einer möglichen Rache zu denken. Ihre Gedanken waren nach Erhalt der Information nicht mehr frei, sondern gefangen. Seit dem Moment, ab dem sie zwanghaft denkt und damit gefangen ist, trifft sie Entscheidungen, die als nicht-körpergerechter Impuls zunächst im Limbischen System als erste Reaktion eine negative Emotion bewirken. Als weitere Reaktion setzen nach kurzer Zeit in diesem Fall die Kopfschmerzen ein.

Weil der Körper vom Geist gesteuert wird, ist er ein perfekter Spiegel für den Geist. Er ist objektiv und kann nicht lügen, weil er immer nur das weitergibt, was ihm vorgegeben bzw. angetan wird. Der Körper – als Spiegel – kann dem Geist die Wahrheit über ihn selbst offenbaren. Und da der Geist grundsätzlich nur von zwei Informationen – Wahrheit oder Lüge – geprägt sein kann, beweist der Körper dem Geist, ob dieser wahrheitsgemäß oder einer Lüge folgend denkt. Dieser Ablauf ist ein wichtiger objektiver Maßstab, welcher dem Geist hilft, seinen unbewussten Selbstbetrug zu erkennen und dann mit der Wahrheit zu ersetzen.

B. Der gefangene Geist: Solange der Mensch Informationen bekommt, die seinem geistigen Bedürfnis entsprechen, bleibt er frei. Er muss nicht negativ reagieren. Da seinen Erwartungen nachgekommen wird, gibt es kein Problem. Aber in dem Moment, in dem der andere nicht mehr das tut, was man von ihm erwartet – oder was aus der eigenen Sicht richtig wäre – beginnt das Problem.

Als ich klein war, hatte mein Großvater einen Hund. Wenn man ihn geärgert hat, biss er sich in den eigenen Schwanz und lief im Kreis. Es ist sicher kein kluges Handeln, wenn man sich selbst zerstört, nur weil andere einen Fehler machen. Genau das ist aber der generelle Prozess bei all den Patienten, die ich untersucht habe. Selbst wenn ich alle Menschen auf dem Globus kennen würde, fände ich wohl keine Ausnahme. Nun meinen manche Patienten, man hätte die Wahl, anders zu denken. Sie könnten vermeiden, sich zu ärgern. Können sie das wirklich?

Fall 8

Eine Patientin merkte nach 35 Ehejahren, dass ihr Mann sie schon seit Beginn ihrer Ehe mit mehreren Frauen an unterschiedlichen Orten betrogen hatte. Etwa drei Jahre, nachdem die Frau dies erfahren hatte, kam sie mit mehreren Beschwerden zu mir in die Praxis. Eine davon war ihre Schlafstörung. Sie erzählte: „Nachts kann ich nicht mehr schlafen. Ich fahre dann mit dem Auto durch die Gegend und schaue mir die Sterne an, während ich überlege, wie ich aus dieser Situation herauskommen kann.“

Ist diese Frau im Geist frei oder ist sie gefangen? Wer nimmt sie gefangen? Die Frau war 35 Jahre lang mit ihrem Mann glücklich und zufrieden. Erst als sie vom Betrug erfuhr, begann der Zerstörungsprozess in ihr. Wer kann ihr helfen, solange sie nicht realisiert, dass sie sich selbst zerstört? Niemand kann das. Sie denkt, dass die Tat ihres Mannes sie zerstört. Doch die Tat ihres Mannes schadete ihr nicht, solange sie nichts davon wusste. Damit wird klar, dass nur die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen und bewerten, uns schaden kann.

Als ich begriff, dass alle meine Patienten Selbstzerstörer sind, habe ich mich gefragt: Warum tun sie sich das an? Natürlich entdeckte ich das gleiche Problem auch bei mir. Es betrifft alle Menschen, da alle in ihrer Funktion identisch sind. Worin besteht nun der Irrtum? Wo täuschen sich alle Menschen?

Eine Täuschung besteht darin, dass die aufgenommene Information als Wahrheit angesehen wird. Solange die Information nicht als Lüge erkannt wird, bleibt sie für den Getäuschten weiter Wahrheit. Die Not kommt also nur zustande, weil die Lüge als Wahrheit angenommen wird.

C. Das Grundgesetz der Natur von Ursache und Wirkung: Schauen wir uns unsere Beziehungsmuster an. Wir haben Beziehungen zu Mutter, Vater, Ehepartner, Kindern, Haustieren usw. Wozu führen wir diese Beziehungen? Weil wir diese Personen lieben und ihnen etwas geben möchten? Oder weil wir etwas von ihnen bekommen wollen, nämlich geliebt zu werden? Warum ist etwa die Frau mit den Kopfschmerzen zu ihrem Freund gezogen? Warum heiratet jemand? Will er geben oder etwas bekommen? Die übliche Antwort ist: „Beides!“ Stimmt das? Anhand des Gesetzes haben wir gesehen, dass Geben und Nehmen zur gleichen Zeit an ein und derselben Stelle nicht funktioniert. Es ist nicht möglich. Man kann auch nicht gleichzeitig vorwärts und rückwärts gehen.

Der Irrtum im Menschen zwingt ihm einen Gedanken auf: Ich bin abhängig von der Liebe und von dem Tun und Sein (der Existenz) anderer Personen. Ist das wirklich so? Es gibt damit zwei Wurzeln des Problems. Entweder tun die Leute nicht das, was wir als richtig einschätzen und von ihnen erwarten – oder sie tun es, sterben aber und gehen uns damit verloren.

Mit dem meist unbewussten Gedanken der Abhängigkeit werden alle Personen, mit denen ich eine Beziehung eingehe, zu meinen Schuldnern. Wir beginnen die Beziehung mit Geben (jedenfalls glauben wir das) und nicht mit Nehmen. Dies widerspricht aber dem Gesetz. In der Natur funktioniert alles nach dem Prinzip: Nehmen, um zu Geben. Der Mensch denkt aber, er gibt zuerst, um danach zu nehmen oder zu bekommen. Der Geist des Menschen täuscht sich grundlegend, weil er denkt, er gäbe zuerst von sich aus. Deshalb würden ihm die anderen etwas schulden und hätten ihm etwas zurückzugeben.

Aufgrund des Irrtums gibt jeder Mensch „zuerst“ und erwartet dafür etwas zurück – sogar, wenn er denkt, er würde es nicht erwarten. Kommt vom anderen nichts zurück, wird über die negativen Gedanken, die man darüber denkt, offenkundig, dass irgendetwas nicht stimmt.

Zusammenfassend haben wir drei Dinge, die uns helfen, uns selbst zu erkennen:

  1. Der Körper über Emotionen, Dysfunktionen, Angst und alle Art von Krankheiten.
  2. Ein gefangener Geist mit auswegloser Perspektive. Gedanken, welche sich ständig wiederholen und einem keine Ruhe geben.
  3. Das Grundgesetz von Ursache und Wirkung, welches zwingend festlegt, dass das Nehmen vor dem Geben kommt. Dass nur das Individuum selbst seine Bedürfnisse stillen kann, indem es alles körperlich und geistig Benötigte von außerhalb nimmt und weitergibt, d. h. umsetzt. Niemand kann für einen anderen trinken, essen oder denken.