10. Das Unterbewusstsein – unsere Waage für Gewinn und Verlust¶
Als ich die Geschichten meiner Patienten aufnahm, habe ich sie am Anfang anhand ihrer Beschwerden in Gruppen aufgeteilt. Ich wollte die Patienten mit denselben Beschwerden, wie Tinnitus, Schwindel etc. vergleichen, weil ich annahm, dass verschiedene Symptome von unterschiedlichen Ursachen ausgehen. Ich wollte einen gemeinsamen Nenner in jeder Gruppe finden. Was haben Patienten mit Tinnitus gemeinsam? Was die Patienten mit Schwindelanfällen? Gibt es Übereinstimmungen und wenn ja, welche? Die Patienten, die multiple Krankheiten und Symptome hatten, interessierten mich am meisten. Was war in deren Leben vorgekommen, dass sie so viele Krankheiten angesammelt hatten?
Jahrelang habe ich nach Gemeinsamkeiten in den Lebensgeschichten der Patienten mit ähnlichen Symptomen gesucht. Im Jahr 2007 bin dann auf etwas gestoßen, was mein Wissen über den Menschen erweitert hat: Egal, welche Geschichte mir ein Mensch erzählte, sobald sie negativ war (was ja alle Krankheitsgeschichten sind), so drehte sich alles um den Gedanken des persönlichen Verlustes. Ich fragte mich: Ist es möglich, dass ein einziger Gedanke der Ausgangspunkt für alle Probleme und damit für alle Krankheiten des Menschen ist?
Es dauerte eine längere Zeit, bis ich völlig davon überzeugt wurde, was unsere Krankheiten auslöst. Irgendwann stand dann aber für mich fest, dass es allein der persönliche Verlust ist, der uns das Leben schwer macht. Es ist egal, welche Geschichte mir jemand erzählt, ist sie negativ, so hat sie den persönlichen Verlustgedanken als Wurzel. Ein anderes Prinzip konnte ich bis heute nicht finden. In meiner Suche bin ich auf das Unterbewusstsein gestoßen, welches mir die Antworten über die Ursache der Krankheiten und der Probleme des Menschen gegeben hat.
Damit wir den Verlustgedanken besser einordnen, ist es wichtig, das Unterbewusstsein, die Funktionszentrale des Geistes, zu verstehen. Um zu zeigen, wie Menschen über einen zentralen Gedanken funktionieren, habe ich ein Schema zusammengestellt. Oben steht die Ebene des Bewusstseins, darunter das Unterbewusstsein, das ich gerne auch als „Herz“ bezeichne. Im Bewusstsein gibt es den Willen. Wir nehmen bestimmte Signale und Informationen wahr. In der Abbildung sind die körperlichen Bedürfnisse grün bezeichnet. H steht für Hunger, D für Durst, S für Schwitzen und F für Frieren. Diese körperlichen Bedürfnisse müssen dem Menschen zunächst bewusst werden. Dann unternimmt er etwas, um sie zu stillen. Der Wille ist vergleichbar mit einem Bildschirm, auf dem „Handlungsbedarf!“ aufleuchtet. Man weiß: Aha, da gibt es eine Aufforderung zum Handeln.
Auch die geistigen Bedürfnisse, rot dargestellt, werden wahrgenommen. Sie sind bei jedem Menschen vorhanden, aber ihre Rangordnung ist individuell. Jeder Mensch hat ein Hauptbedürfnis auf geistiger Ebene. In der Abbildung habe ich H für Harmonie in die Mitte gesetzt, weil ich selbst harmoniebedürftig bin. G steht für Gerechtigkeit, F für Freiheit, T für Treue, W für Weisheit und S für Sicherheit. Um diese geistigen Bedürfnisse zu stillen, muss man sich ihrer bewusst werden, ähnlich wie bei den körperlichen Bedürfnissen. Alle Entscheidungen, die man trifft, um ein Bedürfnis zu erfüllen, werden im Unterbewusstsein vollzogen. Obwohl ich mir also der Bedürfnisse bewusst bin, fällt die Entscheidung dennoch unbewusst.
Im Unterbewusstsein haben wir die Bindungsstelle zwischen Geist und Körper. Da der Geist immer aktiv ist, um den Körper zu versorgen und zu steuern, löst er bei jeder Entscheidung einen elektrischen Stromimpuls an der Hirnrinde aus. Er trifft mehrere hundert Entscheidungen innerhalb einer Sekunde. Deshalb können die meisten Entscheidungen auch nur unbewusst ablaufen. In der Abbildung steht vereinfachend das „Ich“ für den Geist.
Alle Informationen, die am Eingang auf den Geist zukommen, muss er bewerten und kann sie dabei nur in zwei Bereiche einsortieren. Diese sind mit „Gewinn“ und „Verlust“ bezeichnet. Dabei ist Gewinn das, was die Bedürfnisse des Geistes und des Körpers deckt. Ein Verlust ist das Gegenteil davon, also ein Anti-Bedürfnis. Es gibt noch die Nulllinie, d. h. eine Information, welche weder positiv noch negativ auf ein Bedürfnis des Geistes trifft und deshalb keine Reaktion auslöst. Die Nulllinie ist wichtig, weil sie die Höhe, das Ausmaß des Gewinns oder des Verlustes bestimmt. Nach dieser einfachen Einordnung treffen wir alle unsere Entscheidungen, welche nur ein Ja und ein Nein beinhalten. Unsere Entscheidungen sind vorgegeben mit einem „Ja“ zum Gewinn und einem „Nein“ zum Verlust. Ein Ja zu einem Verlust gibt es nicht. Prüfen Sie sich selbst, z. B. daran, warum Sie für einen guten Zweck spenden oder es nicht tun. Alle Entscheidungen des Menschen lassen sich auf ein einfaches Ja oder Nein zurückführen.
Was muss jemand unbewusst denken, wenn er etwa Hunger hat? Er muss Essen als einen Gewinn ansehen. Läuft dieser Prozess bewusst ab? Nein, das tut er sicherlich nicht. Hat jemand eine Auswahl an Speisen vor sich, etwa mehrere Früchte, dann wird auch für jede von diesen Früchten unbewusst Gewinn und Verlust berechnet. Erst dann wird die Frucht ausgewählt und gegessen.
Es gibt keine weitere Entscheidungsebene im Menschen außerhalb von Ja und Nein. Jede Werbung verspricht entweder Gewinn oder Vermeidung von Verlust. Niemand wird auf eine Werbung eingehen, in der gesagt wird: „Kaufen Sie hier, ich habe minderwertige Ware und zu teuer ist sie auch.“ An dieser Stelle gibt es keine Wahl. Alles, was der Mensch als Verlust bewertet, muss er vermeiden und Nein dazu sagen. Dieser Ablauf kann nicht ausgesetzt oder überbrückt werden.
Im Entscheidungsprozess des Geistes muss er Verlust vermeiden. Wenn und solange er dies kann, entsteht keine Angst. Der Mensch kann bei einer roten Ampel auf die Bremse drücken und hat keinerlei negative Emotionen. Versucht er jedoch, die Umstände, andere Personen, Zeit, Geld usw. zu kontrollieren, dann entsteht Angst, spätestens dann, wenn es nicht funktioniert. Somit können wir auch verstehen, was Angst ist. Angst kommt immer dann auf, wenn ich denke, dass ich etwas vermeiden muss, was sich jedoch nicht unter meiner Kontrolle befindet. Es gibt dabei nur eine Verlustangst, nie eine Gewinnangst.
Die Krankheit und alle Probleme des Menschen entstehen, weil er glaubt, dass er sein „Nein“ verliert. Der Mensch ist strukturell festgelegt, immer Nein zu einem Verlust und immer Ja zum Gewinn zu sagen. Dies ist ein Teil seiner Funktionen. Jeder Verlust bzw. bereits die Erwartung eines Verlustes oder der Glaube daran, wird nicht akzeptiert. Persönlicher Verlust kann nicht hingenommen werden und macht den Menschen, der an ihn glaubt und damit erlebt, mit der Zeit kaputt und krank. Dies ist auch davon abhängig, wie hoch der Verlust von jedem einzelnen eingeschätzt wird. Hoher persönlicher Verlust führt zu schweren Emotionen und mit der Zeit zu schweren Krankheiten. Niedrigerer persönlicher Verlust bewirkt weniger starke Emotionen und Krankheiten. Die Höhe des persönlichen Verlustes ist bei jedem Individuum anders. Ein und dieselbe Verlustgeschichte kann sehr unterschiedlich schwer aufgenommen und erlebt werden. Die Intensität ist subjektiv und individuell, aber der Mechanismus, mit dem die Entscheidungen getroffen werden, ist identisch bei jedem Menschen.
Wir berechnen aufgenommene Eindrücke und Informationen hinsichtlich Gewinn und Verlust in wenigen Tausendstel-Sekunden. Dies wurde z. B. bei Spielern, die Entscheidungen zu treffen hatten, anhand von Gehirnströmen gemessen.1 Alle Informationen und Wahrnehmungen werden in Gewinn und Verlust eingeordnet. Allein der Umstand, dass der Mensch glaubt, er könne einen persönlichen Verlust nicht vermeiden, führt zu allen Problemen des Menschen.
Als ich bemerkte, dass alle Probleme des Menschen aus dem Glauben entstehen, dass ihm andere einen persönlichen Verlust bereiten können, habe ich nach der Ursache dieser Idee gesucht. Ich fand sie in der Sichtweise des Geistes, welche ich mit den zwei Augen symbolisch darstelle. Bevor nämlich etwas als Gewinn oder Verlust eingeordnet wird, gibt es noch eine Art Filter: die Sichtweise. Dafür stehen die beiden Augen in den oberen Ecken der Abbildung. Der Geist hat ein (geistiges) Auge, durch welches er alles betrachtet. Es gibt dabei nur zwei Möglichkeiten, wie die Dinge angesehen werden und dementsprechend die Bewertung erfolgt.
Mit dem Auge rechts in der Abbildung, sieht der Geist seinen Gewinn im Bekommen seines Bedürfnisses. Wenn nun Bekommen als Gewinn gilt, dann muss Verlust das Gegenteil von Bekommen sein, also ein Nicht Bekommen, ein Zu wenig Bekommen oder auch ein Weggenommen Bekommen. Mit dem Auge links in der Abbildung sieht der Geist umgekehrt im Geben den Gewinn. Dann ist das Gegenteil davon, also Nicht geben oder Behalten, ein Verlust.
An dieser Stelle wollen wir uns an das Grundgesetz des Universums erinnern. Dort hatten wir das übergeordnete Prinzip Nehmen, um zu Geben untersucht, welches sich auf alle Elemente bezieht, weil alles nach der Arbeitsweise eines Kanals funktioniert. Behalten entspricht nicht diesem allgemein gültigen Prinzip (die Lunge behält nichts vom Sauerstoff usw.). Das Gesetz erlaubt es nicht, Dinge, die aufgenommen werden, zu behalten.
Mit welchem Auge sieht man die Dinge so, wie sie sind, und mit welchem täuscht man sich? Welches Auge setzt das „Nein“ an die Stelle, an der es dem Menschen nicht weggenommen werden kann? Das Auge auf der linken Seite verschafft dem Menschen die Fähigkeit, sein Nein immer umzusetzen, unter allen Umständen. Gewinn und Verlust liegen dort allein in den Handlungen, die ich selbst tue oder unterlasse. Nehmen, Geben und Behalten sind immer meine eigenen Taten.
Aber durch das chamäleonartig dargestellte Auge rechts entsteht eine betrügerische Sicht. Dieses Auge suggeriert einem, dass der Gewinn abhängt von Bekommen und der Verlust aus Nicht Bekommen entsteht. Damit sieht man mit dem Auge immer auf das, was andere vermeintlich richtig oder falsch tun – und auf jenes, was sie nicht tun. Der Blick ist nicht auf die eigene Aktion, sondern auf das Handeln anderer Personen gerichtet. Mit dieser Sicht macht man sich selbst hinsichtlich der Befriedigung der eigenen geistigen Bedürfnisse komplett von anderen Menschen abhängig.
Es ist faszinierend und erschreckend zugleich zu sehen, dass sich jeder Mensch ständig mit dem anderen beschäftigt, damit dieser ihm sein geistiges Bedürfnis stillt. Von wem sprechen die Ehepartner fast ausschließlich, wenn sie zur Beratung kommen? Der Fokus ist komplett auf den anderen gerichtet. Sie sprechen immer vom falschen Verhalten des Partners.
Eine Situation, in der jemand einen anderen Menschen kontrollieren will, entstammt nur aus der Absicht, sicher zu gehen, dass der andere ihm keinen Verlust bereitet. Dadurch entstehen alle Kontroll- und Überwachungsmechanismen.
Es gibt nur diese zwei Wege, die Dinge zu sehen. Entweder ist es so, dass der Mensch seine Entscheidungen hinsichtlich Ja und Nein selbst in der Hand hat. Da niemand anderes für ihn denken kann, ist es offensichtlich, dass ihm dann „Ja“ und „Nein“ gehören.
Oder es gibt ein gegenläufiges Denken, in dem andere ihm einen Verlust bereiten können, dem er nicht ausweichen kann. Solange sich der Mensch im Gewinn befindet und bekommt, was seinen Bedürfnissen entspricht, fühlt er sich dabei noch wohl und hat kein Problem. Wenn aber nach 35 Jahren der Betrug des Ehepartners ans Licht kommt und das bisherige Bekommen sich plötzlich als ein Nicht Bekommen/Weggenommen Bekommen herausstellt, entsteht daraus eine Belastung für das ganze restliche Leben. Denn es herrscht das Denken: Der andere hat mir einen Verlust bereitet.
In dieser Systematik gibt es ein Zünglein an der Waage. Entscheidend ist, ob der Mensch denkt, dass es ein persönlicher Verlust ist. Wenn ein negatives Ereignis außerhalb von uns geschieht, also etwa ein Kind stirbt oder ein Missbrauch stattfindet, dann ist das sicherlich ein Verlust, eine Ungerechtigkeit, eine schlimme Sache. Ausschlaggebend dafür, ob dies den Betroffenen dauerhaft im Denken einnimmt oder nicht, ist der Gedanke, ob es als ein persönlicher oder als ein unpersönlicher Verlust bewertet wird. Ärgert sich im Fall 5 die junge Frau mit den Kopfschmerzen über ihren untreuen Freund, dann nimmt sie sein Handeln zweifelsfrei persönlich. Sie denkt: „Er hat es mir angetan.“ Würde sie aber denken, dass der Freund ihr es nicht persönlich angetan hat, dann wäre ihr Problem gelöst.
Ja, sicherlich hat der Freund etwas Falsches getan. Aber hat er ihr wirklich persönlich etwas angetan? Hatte die Frau wirklich einen verbindlichen Anspruch auf seine Treue? Woher entsteht dieser Anspruch an die anderen?
Auf der Suche nach einer Antwort stieß ich auf die tiefste Stelle im menschlichen Geist – seine Identität. Was denkt der Mensch darüber, wer er ist?
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Fehr, T., Herrmann, M., Meyer, G., Miedl, S., (2010). Neurobiological correlates of problem gambling in a quasi-realistic blackjack scenario as revealed by MRI. Psychiatry Research: Neuroimaging. 181, 165-173 ↩